literature

Utopia

Deviation Actions

petemq's avatar
By
Published:
339 Views

Literature Text

Viele große Geister unserer und voriger Zeit haben sich mit der Erforschung von Utopia befasst. Die erste dokumentierte Entdeckung ist in den Reisetagebüchern des Marco Polo verzeichnet, der es irgendwo in südlichen Gefilden entdeckt hat.  Aber wenn man ganz genau hinsieht ist der Weg nach Utopia gar nicht so weit.

Willst du die Reise nach Utopia wagen? Dann ergreife meine erzählerische Hand, ich nehme dich mit. Nur Laufen musst du selber. Du wirst Dinge sehen, die jeglicher Logik entbehren, wenn man sie genauer betrachtet. Aber sei gewarnt: Nicht jeder, der Utopia betritt verlässt es in einwandfreiem Zustand. Ob ich den Weg weiß? Selbstverständlich. Ich war schon oft genug in Utopia. Genau gesagt, habe ich mehr Zeit dort verbracht als anderswo.

Ich habe das Gefühl verloren. Ich bin schon längst da. Du auch. Du merkst es noch nicht? Das tun die wenigsten. Utopia, das ist etwas Geistiges. Körperlich warst du schon länger da. Dein ganzes Leben, um genau zu sein. Wie auch immer, wir beginnen einfach mit einer kleinen Sightseeingtour, früher oder später wirst du schon nachkommen.
Erster Halt. Hast du dich schon mal gefragt, was Geld ist, mal abgesehen von einem Stück Papier, Metall, Plastik oder elektrischen Impulsen in magnetischen Feldern? Früher gab es kein Geld. Geld ist eigentlich nur eine andere Definition für Leistung. Wenn du etwas Nützliches für andere tust wirst du im Normalfall dafür bezahlt, wer etwas leistet kann sich etwas leisten. Die erbrachte Leistung wird nach Zeit- Material- und Ausbildungsaufwand beurteilt, das Ergebnis ist eigentlich: Genau den gleichen Aufwand kannst du jetzt von jemand anderem fordern. Und damit das Ganze nicht so umständlich wird und jeder ohne große Probleme an jede Leistung kommt hat man das Geld erfunden. Die Einheit für Leistung sozusagen. Widersprich mir jetzt, wenn du anders denkst. Natürlich stimmst du mir zu. Das ist immer noch die Welt, wie du sie kennst, nicht? Dann lass uns mal weitergehen.
Geld ist nicht gleich Geld. Euro, Dollar, Yen, Lira. Geld, alle wie sie da sind. Strecken kann man ja auch in Metern, Fuß, Inch, Zoll messen sagst du und hast Recht. Aber Utopia liegt gleich um die Ecke. Wir können die Einheiten umrechnen.  x€ = y$. Aber die Gleichung hat zwei Unbekannten,  die Funktion ändert sich täglich. Je nachdem womit ich deine Leistung bezahle bekommst du morgen dafür mehr oder weniger wieder zurück. Und weiter: Der gleiche umgefallene Sack Reis, dieselbe Stunde Arbeit kostet in China ein Zehntel von dem, was er hier kostet, egal in welcher Währung. Aber die Leistung ändert sich nicht. Na, erkennst du Utopia schon? Und es wird noch deutlicher. Es gibt Leute, die spekulieren an der Börse. Leistung kaufen, Leistung verkaufen. Man kann damit sogar einen Haufen Geld verdienen. Geld ist Leistung, nicht wahr? Wem hat jemand von denen denn Leistung erbracht? Einige schaden sogar bloß und können jede Menge Leistung einfordern.  Leistung ist eine gesellschaftliche Sache, aber wenn unsere Gesellschaft Leute, die sie nicht will, unterhält, entbehrt es doch jeglicher Logik, nicht wahr? Willkommen in Utopia, mein Freund.

Dir wird langweilig, nicht wahr? Ich darf eh nicht zu viele Worte machen. Also nur die verkürzte Version heute. Zeit und Politik lasse ich heute also aus. Letzte Station für heute: Du

Was bist du? Ein Mensch? Genauer! Ein Körper? Genauer! Eine Ansammlung von Molekülen, Atomen, Elektronen, Quarks, Photonen oder sonstigen, noch nicht definierten Quantenteilchen? Geschenkt. Das wichtigste hast du vergessen.
Ich sehe dich vor mir, dieselben Quantenteilchen wie noch eine Sekunde zuvor. Dein Körper erschlafft, aus deinem Mund ertönt ein Laut. Das Fleisch liegt lose um deine Knochen, ich habe dein Schienbein selten so gut erkennen können. Langsam bekommt Die Haut einen gelblichen Farbton, einen wächsernen Glanz. Die Muskeln spannen sich ein letztes Mal, dann erschlaffen sie wieder. Rote Flecken bilden sich an Rücken, Po, Schultern, Fersen. Du hast Glück gehabt.

Bist das noch du, so leblos?

Ich verneine. Aber was ist so anders als vorher? Nichts, eigentlich. Dein Leben war doch auch nur eine Kette aus chemischen Reaktionen in einem begrenzten Gebiet. Bitte sehr, das haben wir doch immer noch. Die Nervenreize, bewegte Ionen, die in deinem Gehirn Hormone freisetzten, das war es doch. Forscher könnten mit viel Zeit sogar vorhersagen, wie sich dein gesamtes Leben entwickelt. Wann du welche Emotionen empfindest, welche Entscheidungen du triffst, alles eine Frage der Physik. Selbst das gerade in dir aufkeimende Gefühl der Hilflosigkeit, Eingeengtheit hätte man mühelos bestimmen können. Aber trotz alles Wissens über die Art, Entstehung und Konsequenz dieser Emotion, trotz aller Kenntnis über den Wahrnehmungsapparat: Warum haben zufällig zusammengekommene Teilchen die Empfindung einer Persönlichkeit? Die einzigen existierenden Theorien dazu hast du längst als vollkommenen Nonsens erkannt. Ewiges Leben? Nein, du weißt um deine Sterblichkeit. Wie entsteht sie? Was passiert mit ihr, in dem nicht allzu fernen Moment, in dem du einfach aufhörst zu leben. Stell dir das mal genau vor. Auf einmal bist du nicht mehr. Alle Sorgen, Freuden die du jemals hattest sind nicht nur vergessen, es gibt sie nicht mehr. Nicht für dich. Du kannst nicht einmal mehr darüber nachdenken. Es spielt keine Rolle, dein ganzes Leben nicht. Obwohl du dich mit Instinkt und Verstand daran klammerst, nicht wahr?

Ah, ich sehe du bist angekommen. Willkommen in Utopia.
Mein erster Beitrag zu einem Contest, und auch der erste text dieser Stilrichtung für mich. Doppelte Premiere also.
Und nicht gerade das unbedeutendste Thema. Heute Nacht war mal wieder Leichenschau dran. Und obwohl es eigentlich Routine war nahm auf einmal diese Idee Gestalt an. Makaber? Kann sein. Aber ich hatte das Gefühl, auch etwas beitragen zu müssen.
© 2012 - 2024 petemq
Comments9
Join the community to add your comment. Already a deviant? Log In
Ich finde es schön, dass man so vieles von dir in diesem Prosatext erkennt. Es sind viele nur kleine Dinge, aber diese Dinge machen den Text zu etwas besonderem. Man kann sich bildlich vorstellen, wie du vor einem sitzt und versuchst, einen zur Erkenntnis zu leiten. Auf deine ganz eigene Art und Weise. Ich glaube, das ist es, was die Menschen an dir mögen. <3